Donnerstag, April 19, 2007

Wie ich einmal fast Hertha-Fan wurde ...

Die Gedanken an Berlin und das Pokalfinale haben auf verworrenen Wegen eine vergrabene Erinnerung hervorgeholt. Die Geschichte spielt vor 1988 und natürlich sind Erinnerungen an die Zeit vor dem sechsten Geburtstag alles andere als zuverlässig. Allerdings sind sie bei meinen Eltern, die ich im Vorfeld dieses Eintrags gelöchert habe auch nicht zuverlässiger. Zusätzlich glauben meine Eltern jetzt wahrscheinlich endgültig, dass ich einen Hau habe. Welcher normale Mensch ruft seine Mutter schon nachts um halb elf an um zu fragen, wann er Windpocken hatte. Keiner von uns kann sicher sagen, welche der Berliner Wohnungen und welches Jahr es waren, was folgt ist also eine Rekonstruktion. Wie alle Rekonstruktionen kann sie das Original nicht in ihrer ganzen Pracht widerspiegeln. Aber die zentrale Erinnerung ist da: Die an meine Windpocken. Die Windpocken, die verhinderten, dass ich Hertha-Fan wurde.

Wie die meisten wissen bin ich gebürtiger Berliner, Neuköllner um genau zu sein. Ein Makel, der mich seit jeher dazu veranlasst mein bayerisches Blut überzubetonen, manchmal zum Unbill der fränkischen Umgebung. Um die bayerischen Wurzeln nicht zu vergessen (und damit meine Eltern auch mal ihre Ruhe hatten), wurde ich oft zu meinen Großmüttern geschickt. Bei der Mutter meiner Mutter war ich stets unzertrennlich mit meiner um genau ein Jahr älteren Cousine unterwegs. Daher waren wir alle sehr verwundert, dass ich -zurück in Berlin - am Ende der Inkubationszeit der Windpocken noch immer keine Anzeichen einer Ansteckung zeigte.
Mein Vater arbeitete zu diesem Zeitpunkt im Kreuzberger Urbankrankenhaus mit Professor Weigert zusammen. Professor Weigert war damals Mannschaftsarzt von Hertha BSC.* Man sollte vielleicht dazu sagen, dass dies keineswegs eine glorreiche Tätigkeit in den späten 80ern war. Hertha spielte nie in der ersten Liga, krebste 1987 und 1988 sogar in der Oberliga Berlin herum und war zu diesem Zeitpunkt nur Nummer zwei in Berlin hinter den Emporkömmlingen von Blau Weiß 90 Berlin. Dem Wiederaufstieg in die zweite Liga folgte ein kurzes Gastspiel in Liga 1 und zwischen 1991 und 1997 eine durchgehende Mitgliedschaft in der zweiten Bundesliga. Erst seit zehn Jahren spielt Hertha wieder erstklassig, wenn auch nicht immer erstklassigen Fußball. Zu Oberligazeiten spielte man nicht einmal im Olympiastadion, sondern im völlig sanierungsbedürftigen Poststadion. In der Saison, in der meine Geschichte spielt, da spielte man allerdings noch in jenem überdimensionierten Olympiastadion, es war jene fatale Abstiegssaison 1985/86.
Mein Vater war von Professor Weigert gefragt worden, ob er ihn für ein Spiel als Mannschaftsarzt der Hertha vertreten könne. Papa, fußballbegeistert, wenn auch nicht in dem verrückten Maße wie sein Sohn jetzt, sagte natürlich zu, allerdings unter der Bedingung, dass ich mit auf der Bank Platz nehmen dürfte. Für die Hertha-Verantwortlichen und den damaligen Trainer Rudi Gutendorf, er war nur vier Monate bei Hertha, war dies kein Problem. Kleine Kinder haben bei Profis oftmals den Ruf als Glücksbringer. Der geneigte Leser wird sich schon vorstellen können, welche Richtung die Geschichte einschlagen wird. Natürlich brachen die Windpocken wenige Tage vor dem Spiel aus. Mein Trip auf die Hertha-Bank war damit natürlich gestorben, schließlich konnte man bei der Hertha - sowieso schon auf einem Abstiegsplatz stehend - es nicht riskieren, dass in der Mannschaft auch noch die Windpocken ausbrachen. Mein Vater wollte aber ohne mich nicht auf die Bank, wahrscheinlich hatte er überhaupt nur zugesagt, um mir etwas zu bieten. So bekam ein anderer Kollege - ich meine es war derjenige, der mit den Wasserfreunden Spandau ständig Deutscher Wasserballmeister wurde - den Auftrag. Hertha verlor mit 0:2, beim nächsten Heimspiel gegen Blau-Weiß 90 saß Professor Weigert wieder auf der Bank. Mein Vater und ich nahmen die Mannschaftsarzt/Maskottchen-Routine erst sehr viel später auf. 1992 beim EHC 80 Nürnberg in der zweiten Eishockeybundesliga.

Man stelle sich aber vor, die Windpocken wären ausgeblieben, ich wäre durch die Katakomben des Olympiastadions gezogen, Andy Köpke, Gregor Grillemeier und Dirk Lellek hätten mir den Kopf getätschelt, mich gefragt wie alt ich bin, ich hätte süß mit drei und einem verkrümmten Finger angedeutet, dass ich "fast vier" bin. Von der Bank aus hätte ich das völlig leere Olympiastadion betrachtet und wäre vielleicht in der Sportreportage zu sehen gewesen, weil ich voller Bewegungsdrang die Tartanbahn auf und ab gelaufen wäre, vielleicht sogar mit dem süffisanten Kommentar von Günther-Peter Ploog, dass ich der einzige Berliner an diesem Tage gewesen wäre, der eine ansprechende Laufleistung gezeigt hätte. Wer weiß, vielleicht hätte die Hertha das Spiel dank der Kleinkind-Motivation ja sogar anders bestritten. Egal wie,
die Eindrücke hätten mich mein Leben lang geprägt.
Jeder weiß, wie seltsam die fußballerische Prägung funktioniert, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meinen Vater nach so einem Erlebnis nicht ständig gelöchert hätte wieder zur Hertha zu gehen. Egal, ob als Mannschaftsarzt oder regulärer Besucher. Papa hätte das sicherlich versucht, auch wenn es sicherlich bessere Nachmittagsbeschäftigungen gegeben hätte als der Hertha Ende der 80er zuzusehen. Mein erster Lieblingsspieler wäre nicht Olaf Thon geworden, sondern Thorsten Schlumberger - meine Vorliebe für kleine Spieler wird nicht sonderlich überraschen - und meine Affinität zum 1. FC Nürnberg hätte sich nie entwickeln können, weil in meinem Herzen sich bereits eine Alte Dame breit gemacht hätte. Hans Meyer und Andy Köpke, Tony Sanneh und Kai Michalke wären mir trotzdem als Fan begegnet, aber "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin" hätte für mich immer einen anderen Klang gehabt. Fußballerische Heimat, nicht Ziel.

*Hätte diese Geschichte ein aus seiner Sicht "gutes Ende" genommen, hätte mich Greidie auch nicht daran erinnern müssen, dass Hertha BSC Berlin natürlich falsch als Vereinsbezeichnung ist.

Keine Kommentare: