Donnerstag, Juni 22, 2006

Das vergessene Spiel

Unglaublich. Es regnet wie aus Kübeln, irgendwas von dreißig Kubikliter pro Quadratmeter oder so meint der Wetter-Fuzzi im Radio. Da sitz ich also nun in Garching auf einer Schotterpiste nach 20 Minuten Parkplatzsuche und es schüttet. Nicht nur, dass ich es nicht über’s Herz gebracht habe, die Karte für dieses Spiel, dessen Ausgang jeder gleich nach Abpfiff vergessen wird, einfach verfallen zu lassen und mich auf meine anderen Spiele, die allesamt wichtiger sind, zu konzentrieren, nein, jetzt regnet es auch noch in Strömen. Irgendwer will mich dafür bestrafen, dass ich Karten für sechs WM-Spiele habe. Ich klettere auf die Rückbank und hole einen Schirm aus dem Kofferraum, falle dabei über die Packung meiner Stuttgart-Karten vom Montag, alte Süddeutsche Zeitungen und mein orange-farbiges Hemd, das seit Wochen dort liegt, seit es meine Mutter gereinigt hat. Das normale Chaos in meinem Auto eben. Also raus aus der Beifahrertür, Schirm aufgespannt und los.

Ich komme keine 200 Meter weit, da löst sich das Eisengestänge des Schirms auf und lässt mich mit einem völlig unbrauchbaren Etwas zurück. Ich gehe zurück ans Auto, werfe den Schirm in den Kofferraum. Dort entdecke ich wenigstens einen Pullover und ein Ersatz-T-Shirt für den Fall, dass ich richtig durchnässt sein werde. Manchmal ist Unordnung doch nützlich. Also, auf zum U-Bahnhof ganz ohne Schirm und bis ich dort bin, sind meine Socken so nass wie Ballacks Frisur aussieht. Gut, rein in die U-Bahn, gut voll, aber nicht überfüllt ist sie, kaum einer redet über das Spiel, das man sehen wird. Es geht eher um das in Frankfurt, da spielt ja auch der Viertelfinalgegner der Deutschen. Auf ein “möglich” im vorigen Satz verzichten alle. Wir steigen alle aus, nach einer kurzen Fahrt hinterm Müllberg vorbei.

Der Bahnhof ist wesentlich gefüllter, als beim letzten Mal, als ich vier Stunden vor Anpfiff die Dachkonstruktion des U-Bahnhofs bewundern konnte. Am Treppenaufgang Richtung Stadion bieten einige, die wie ich wohl lieber das Spiel Argentinien-Niederlande sehen wollen, ihre Karten an. Zum Nennwert! Nichts drückt den Stellenwert des Spiels besser aus, denke ich mir und trotte langsam durch den nachlassenden Regen Richtung weiß leuchtendes Stadion. Eigentlich keine echten Ivorer, dafür jede Menge falsche sind da mit mir im Strom gen Stadion. Quasi jeder zweite heißt Drogba. Der ist gesperrt, natürlich, mein Glück. Die Serben, die ich sehe, machen klar, dass sie Serben sind und keine Serben und Montenegriner. Srbija steht da in kyrillsichen Lettern auf ihren Trikots: Serbien. Da sieht keiner so aus, als hätte er sich nur für einen Abend zum Serben gemacht. Die Schlange am “äußeren Sicherheitsring”, wie die Personenkontrolle im FIFA-Deutsch heißt, wirkt lang. Vor mir steht ein serbischer Bär mit Militärmütze, hinter mir überlegt ein bayerischer Großvater, wie schnell man nach dem Spiel in die U-Bahn komme. Noch einer, der schnell wieder weg will.

Es geht dann doch zügig bis zur Kontrolle. Die geht – wie immer bei mir – schnell und unkompliziert. Der Ordner wünscht mir sogar “Viel Spaß”. Zyniker. Ich rufe Christian an, einen mir bekannten Bayern-Fan, der auch im Stadion ist. Wir verabreden uns am Eingang von Block 130. Der Eingang, durch den ich den inneren Sicherheitsring das Stadion selbst – betrete, ist natürlich am anderen Ende, wo auch sonst. Endlose Reihen von Treppen mit Blockziffern im Bauch des Stadions – 115, 116, 117 – es dauert. Ich schwitze. Warum musste ich auch diesen Pullover anziehen, Ersatz-T-Shirt hätte doch genügt. Ich komme an Block 130 an. Christian ist schon da, wir unterhalten uns ein wenig über sein Fachabitur und unsere Heimatstädte München und Nürnberg und ich stelle fest, dass München anders schön ist als Nürnberg. Das Gespräch dauert nicht zu kurz und nicht zu lang, eine halbe Stunde vor Anpfiff verabreden wir uns für das Spiel morgen in Nürnberg und gehen in verschiedene Richtungen auf unsere Plätze.

Doch natürlich überkommt mich in diesem Moment der Durst. Meine Planungen dahingehend abzustimmen, womöglich vor dem Spiel genug zu essen und zu trinken, um nicht Unmengen an Geld im Stadion auszugeben, ist mir völlig unmöglich. Ich stelle mich in die Schlange. Den jungen Herren vor und hinter mir in ihren Krachledernen geht es nur darum, wie viel Bier man pro Person bekommt. Die Antwort “Drei” missfällt ihnen. Ich bestelle mir eine Cola und ein Wasser, damit ich in der Pause nicht nachfüllen gehen muss. Genau zur FIFA-Hymne, einen wunderbar passenden Stück zur Einleitung großer Spiele begebe ich mich die Treppen zu meinem Platz hinunter. Quasi auch die Einlaufmusik für mich. Ein Blick Richtung Himmel verrät: Es regnet noch. Doch die Konstruktion des Dachs schafft es, den Regen wie einen Vorhang vor der ersten Reihe aufhören zu lassen, was durchaus beeindruckend aussieht. Ich nehme Platz und ordne meine Getränke und Jacken und wirke dabei bestimmt wie ein Tollpatsch.

Rechtzeitig zu den Hymnen bin ich aber fertig. Die ivorsche ist lang, aber auf der Leinwand sieht man die Spieler ausdauernd mitsingen. Dann setzt die Hymne der Südeuropäer ein. Gellende Pfiffe aus dem eigenen Fanblock ertönen. Fragende Blicke ringsum: Protest gegen die Leistungen? Noch mal die Hymne der Elfenbeinküste? Gar die des Schiedsrichters? Nein, die alte jugoslawische Hymne will nur keiner der Serben mehr hören. Der älteren Dame rechts neben mir erläutere ich den Sachverhalt, sie ist erstaunt. Den ganzen Abend über wird sie immer wieder kurz auf bayrisch mit mir kommunizieren, kurze Fragen und Anmerkungen setzen. Nett. Das Spiel hat noch nicht begonnen, da schwappt schon die erste Welle durchs Stadion. Die Mexikaner wissen nicht, was sie dem Fußball mit dieser Erfindung angetan haben.

Die Serben rechts von mir sind unglaublich laut und sie stehen auch alle. Ich befürchte schon, dass ich im Laufe des Spiels wieder aufstehen soll, wenn ich Deutscher bin. Noch so ein überstrapaziertes Stadionritual. Nach 10 Minuten wollen auch bei uns im Block zwei Typen in Lederhosen eine La Ola starten, doch der Versuch erstickt im Torjubel der Serben. Im zweiten Rang wird ein Bengalisches Feuer gezündet, die Serben feiern. Das Publikum schafft es tatsächlich nicht nur in orange-weiß-grün da zu sitzen, sondern ein lautes “Cote d’Ivoire” dem schnellen und harten “Srbija” entgegenzusetzen. Die junge Frau zwei Plätze rechts von mir geht vollends in diesem Schlachtruf auf; sie wird den ganzen Abend lang nichts anderes schreien. Die Elfenbeinküste spielt gut mit, aber sie zeigen, warum es in diesem Spiel um nichts mehr geht. Sie treffen das Tor zu selten. Gerade als die Wellenlederhosenmänner wieder eine La Ola starten wollen, es wird ihnen irgendwann Mitte der zweiten Halbzeit gelingen, fällt das 2:0 für Serbien. Das Publikum buht und die Serben rasten aus. Dafür, dass es um nichts mehr geht, ein netter Kick und verdammt gute Stimmung.

Dafür sorgen auch die Ivorer, die nicht aufstecken, sondern weiter auf schwer bespielbarem Rasen Fußball spielen wollen. Es gelingt. Doch der Ball will nicht rein. Doch die Serben helfen nach. Flanke und ein serbischer Verteidiger geht völlig sinnfreier Weise mit beiden Armen wie ein Torwart zum Ball. Natürlich Elfmeter. Der Schütze läuft an, in diesem Moment donnert es, das Gewitter verleiht der Situation zusätzliche Dramatik. Der Schütze trifft, die Menge jubelt, doch in den Jubel mischen sich Pfiffe, der Jubel ebbt ab, die Pfiffe bleiben. Er hat das Tor nicht gegeben, der Elfmeter muss also wiederholt werden. Der Schütze läuft wieder an, selbe Situation, nur ohne Donner, selbes Ergebnis, nur ohne Pfiffe. Das Tor zählt, die Ivorer sind dran. Kurz darauf fliegt ein Serbe vom Platz, die Zuschauer klatschen, einige singen gar “Auf Wiedersehen”. Wer bis dahin noch Zweifel an den Sympathien des Publikums hatte, der war jetzt überzeugt.

Der Wind dreht sich, der Regen fällt nun auf die ersten fünf Reihen der Südkurve. Natürlich sitze ich in der Südkurve. Natürlich in den ersten fünf Reihen. Alle anderen um mich gehen, sie wollen nicht nass werden, ich bleibe sitzen. Nass werden? Das ist Fußball. Ich erwische mich dabei, wie ich Spaß habe. Der vergrößert sich, als das Halbzeit-Ergebnis aus Frankfurt gemeldet wird: 0:0. Nach der Halbzeit kommen die Serben kaum mehr zum Zug, die Ivorer bestimmen das Spiel und als mal wieder eine Welle gestartet werden soll, trifft Dindane zum Ausgleich. Das Stadion tobt: 66,000 Mann gehen mit bei einem Spiel, bei dem es nur um den wertlosen dritten Platz einer WM-Vorrundengruppe geht. Ich bin beeindruckt.

Der schönste Moment kommt fünf Minuten später. Der Himmel über dem Guckloch aus dem Arenadach wird violett und durch einen Blitz erleuchtet. Gespenstisch schön. Das Spiel läuft weiter, kurz vor Schluss ein Pfiff auf der anderen Seite des Stadions und es gibt erneut Elfmeter für die Afrikaner. Keiner von uns hat gesehen, warum, aber den meisten ist es egal. Außer den Serben rechts von mir, die pfeifen jetzt. Kalou trifft trotzdem, das Stadion jubelt. “Cote d’Ivoire! Cote d’Ivoire! Cote d’Ivoire!” Kurz darauf Schlusspfiff und Didier Zokora macht die Welle mit den Fans. Bei ihm klappt es auf’s erste Mal. Er bedankt sich dafür, dass das Publikum ihn und sein Team unterstützt hat.

Später werde ich lesen, dass zum ersten Mal seit 1970 ein Team wieder ein 0:2 in einen Sieg verwandelt hat, in diesem Moment ist mir das egal, ich freue mich unglaublich, nicht nur über den Sieg, sondern auch über das Spiel, den schlechten Schiri, seinen theatralischen Assistenten, das Wetter und die Tatsache, dass ich die Karte nicht verfallen habe lassen. Später im Auto höre ich, dass es im anderen Spiel beim 0:0 geblieben ist. Ich bin richtig glücklich. Unglaublich.

Dieser Text ist von mir auch auf mag.fussball-forum.de veröffentlicht und dort mit Zwischenüberschriften zu lesen.